Dienstag, 22. September 2015

Papierliebe




















In der vergangenen Woche habe ich endlich begonnen Ernst zu machen. Mich zu trennen.  Von Papierbergen vergangener Jahrzehnte. Es ist noch immer so, dass ich kein Blatt Papier wegwerfen kann ohne noch mal draufgeschaut zu haben. Aber ein Anfang ist gemacht, eine ganze Papiertonne ist voll geworden und ich frage mich besorgt, wo das ganze Papier denn vorher war... Nach diesem langen Zögern war plötzlich klar, was ich nicht mehr brauche. Entweder weil es nicht mehr wichtig ist für mich, weil sich etwas als Randerscheinung oder Sackgasse herausstellte oder - und da habe ich gestaunt - weil ich es nicht mehr brauche, weil ich das, was darauf steht, so verinnerlicht und in mein Leben integriert habe, dass es mir nicht mehr abhanden kommen kann. Ich habe keine Angst mehr etwas nicht nachschauen zu können, weil ich mir sicher bin, wenn ich es brauche, wird es da sein und aus meinem Herzen, aus dem Bauch und aus dem Kopf hervorkommen. 





Zimmerpflanzen habe ich nur wenige. Ich lebe ja eher mit dem Grün draußen vor der Tür und bin jeden Tag draußen. Nicht um von A nach B zu kommen, sondern um draußen zu  s e i n . Da kann mich auch Wetter nicht abhalten. Ein paar Sukkulenten gibt es da noch, zur Sommerfrische, Affenbrotbäume (Ableger von einer leider erfrorenen sehr alten Mutterpflanze), Aloen (Geschenke), eine Haworthie (aus einer Wegwerfsachenkiste gerettet), eine Agave, eine Euphorbia. Sie schmücken sommers den Terrassenrand, bevor sie wieder im trockenen und kühlen Gästezimmer Winterquartier verschwinden. Wie die Schuster- oder Fleischerpalme, die bei einer alten Freundin im Treppenhaus nicht mehr bleiben konnte. Die Zimmerpflanze, die in einem meiner "Schlafbüro"-Fenster steht, bekam ich dieses Jahr von lieben Übernachtungsgästen geschenkt. Ich weiß nicht, was es für eine Pflanze ist. Fühlt sich auch ein bisschen dickfleischig an. Darüber schlängeln sich die langen Triebe einer Leuchterblume. Alle paar Jahre verjünge ich sie, trenne die Knöllchen ab und topfe sie, und manches eins kleine Pflänzchen ist jetzt auch schon ganz woanders verwurzelt. Ich kann nicht mehr sagen, wo ich die Leuchterblume eigentlich mal her hatte. Jedenfalls lebt sie schon Ewigkeiten hier und ist die genügsamste Zimmerpflanze, die ich kenne.



Geschrieben steht hier mit ausgeblichener, einst schwarzer Tinte, ein Gedicht von Sarah Kirsch.

Bäume

Früher sollen sie
Wälder gebildet haben und Vögel
Auch Libellen genannt kleine
Huhnähnliche Wesen, die zu 
Singen vermochten, schauten herab.

Geschrieben auf einem Papier, das mal ein "Unfall" war. Eins der großen A3-Blätter, die ich vor ungefähr 12 Jahren bei einem Kurs mit Dagmar Naumann (Blankenburger Schlosspapier) in Weddersleben schöpfte. Beim Herausheben des Siebes - im A3-Format ist das gegen die Wasserlast ziemlich schwer - rutschte das Papier ab und schlug Falten. Normalerweise gibt man dann das Blatt in die Pulpe zurück, indem man das Sieb auf die Wasseroberfläche legt, die Papierfasern abgleiten lässt und wieder mit der Pulpe vermischt. Es hielt mich etwas ab. Ich presste das faltige Blatt. Auch daraus könnte etwas werden. Heraus kam dieser Baum. Und dazu fand sich das Gedicht, das Papierblatt wurde mit Kleber auf ein irgendwo mal übrig gebliebenes und zwischengelagertes Drahtgestell montiert. 





Seitdem hängt dieses Blatt im Fenster bei mir im Zimmer, schon viele Jahre lang. Ein Zeichen. Meiner Trauer um vor ihrer Zeit zum Sterben verurteilte Bäume, weil sie Menschen im Weg sind. Wie Wildkraut, dem mit Hacke und Gift feindselig als "Un"kraut zuleibe gerückt wird. Weil es die Ordnung stört, die Sauberkeit. Obwohl es lebendig ist wie wir. Inzwischen haben wir Zeiten, in denen nicht nur Bäume, sondern auch Menschen im Weg sind. Weil sie stören. Unfassbar und doch an der Tagesordnung. Hier. Jetzt. Vor unseren Türen. Wie gut es ist und wie gut es tut, dass es auch Türen gibt, die offen stehen. Hoffentlich genug. Und dass es so viele Menschen gibt wie sie, die mit beeindruckender Geduld nicht aufhören im Gespräch mit Menschen zu bleiben, aufzuklären, seit Wochen unterstützend ihre Hände regen und Menschen menschlich begegnen. Zuversicht stärkend.

"Alles wirkliche Leben ist Begegnung." (Martin Buber)            

Und - bei allen Konstanten - auch Veränderung. Darüber nachzudenken gehe ich jetzt weiter meine Papiere ordnen. Und sollte der Himmel mal wieder ausreichend Tageslicht spenden und nicht nur solche grauen Fotos zulassen, komme ich irgendwann mal nicht nur fotografisch auf noch mehr Papier zurück. Auf Bücher.

Bunt ist die Welt - Zimmerpflanzen.
Papierliebe - Veränderung (und auch zu Falten hätte es gepasst).
Creadienstag.
Upcycling-Dienstag.

12 Kommentare:

  1. eines ist wichtig - ein grosses herz - und platz machen damit das gestern nicht mehr uns fesselt sondern für uns eine brücke für heute und morgen dient ! gut dir zeit dazu zu nehmen, im sommer hatte ich berge von sachen weggeben damit es anderen dient - habe gerne deine aufrichtige worten gelesen über das beisameleben aller lebenwesen auf erde.

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  2. Ablegen, was unnötig ist, was nur Raum füllt, tut gut (was es aufzubewahren lohnt, weiß man bald). Mit dem äußeren Sortieren ist auch immer wieder eine innere Frische spürbar, offen für jetzt Wichtiges.

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  3. Ein schöner Wachruf, sich auf Weniger besinnen und das zu schätzen und zu nutzen, was da ist und ja, sich auch zu trennen (wobei ich innerlich rufe: die Papiere! die Papiere! ;-))
    Ich habe auch einiges schon weggeworfen, weil ich nicht mehr so viel zuhause haben mag. Interessanterweise kommen ja immer neue Dinge hinzu und irgendwann wird einfach mal Stopp gesagt und sich auf das Verarbeiten des Bestehenden konzentriert. Insofern danke für die Erinnerung, auch mal wieder bewusster mit Dingen umzugehen.
    LG. Susanne

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    1. "die Papiere, die Papiere!"... Die Größe des übriggebliebenen Papierbergs habe ich ja gar nicht beschrieben. Papierschöpfen und Collagen sind materialmäßig auf Jahre gesichert ;-)

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  4. Oje, da blutet mir schon etwas das Herz, andererseits weiß ich auch, wie befreiend es ist, sich von Altem zu trennen und Platz für Neues zu schaffen.
    Viele liebe Grüße, Synnöve

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  5. Diese Art des Trennungsschmerzes kenne ich auch. Ich werde mir jetzt im Herbst auch mal Bücher und Ordner vorknöpfen... (Bücher wegwerfen geht gar nicht. Verkaufen, verschenken, verbasteln - kein Problem)... Dein Baumgeschöpf ist wunderschön! Und ach - eine winzig kleine Leuchterblume trug ich gestern aus dem kleinen Gartenzentrum heim. Jetzt weiß ich wenigstens einen Namen und habe gleich deine kleine Einführung dazu. Toll.
    LIebe Grüße
    Andrea

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  6. wie schön, Dein Faltenbaum! Und das Gedicht, traurig. schön.
    Wegtun tut gut. Ist es nicht wunderbar, dass Dein Wegtun Dir Deine verinnerlichten Wegmarken ins Bewußtsein brachte?
    Aber das Material brauchen wir. Ohne Materialisten sein zu wollen. Wir brauchen seine Anmutung und Sinnlichkeit zur Inspiration. Welch ein Glück, aus dieser Fülle schöpfen zu können.
    Sei herzlich gegrüßt von
    Lisa

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  7. ...aus der Überfülle weggeben tut so gut, liebe Ghislana,
    es macht frei und hilft, auf Wesentliches sich zu besinnen...schön beschreibst du das...mit Büchern fällt es mir besonders schwer, aber auch da bin ich dran...Leuchterblume kannte ich noch nicht...schön, wie sie das Bild mit Ranken und Schatten begleitet,

    lieber Gruß Birgitt

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  8. ....man sagt ja: "Papier ist geduldig !" - Es ertägt viel, sogar die Entsorgung ;-)))
    Viel Spaß, die frei gewordenen Plätze wieder zu füllen !
    Schönen Gruß,
    Luis

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  9. sarah kirsch - so genial! so passend zu deinem handgeschöpften papier, so passend zu dieser zeit. papierberge entsorgen hab ich vor zwei jahren gemacht - all das aufgehobene aus dem studium, aus vielen jahren sozialarbeit. es war sehr befreiend und ich habe bisher nicht ein einziges teil davon vermisst! aufgehoben hingegegen mappen voll mit alten malereien, zeichnungen, papieren, die jetzt wieder als schnipsel, als kreise, als collagenteile eine neue bestimmung finden. papierliebe!
    liebe grüße, mano

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  10. aufräumen, ausräumen, Dinge fortgeben, weil man sie nicht mehr braucht, weil man weniger braucht, als man immer dachte
    ja, das ist auch für mich immer wieder ein Thema
    und dann aufheben, was einen berührt, wie dein Blatt mit Falten, das im Gegenlicht so zart und verletzlich wirkt
    ein nachdenklich machender Post

    lieben Gruß
    Uta

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  11. Verblasste Tinte. Berührende Worte. Papier vorm Wegwerfen gerettet und anderes, von dem sich getrennt wurde. Wie ergreifend es bei dir zu Hause zugeht... lg mila

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Ich freue mich sehr über eure Gedanken.
Bitte aber keine anonymen Kommentare.