1. Mein erster Schulanfang war 1960 in Lindow/Mark. Ich hatte eine Schultüte. Jedes Kind hatte die gleiche, gefüllt mit den gleichen Dingen, wie Buntstiften und etwas Süßem. War das nun Gleichmacherei oder - wenn ich heute so manchen Wettbewerb um Design, Größe und Inhalt der Schultüte sehe - doch irgendwie vernünftig? Ich fand sie toll, die Schultüte, und zu Hause gab's einen Bildband dazu, Paris bei Tag - Paris bei Nacht, mit einem langen Eintrag meines Vaters übers Lernen.
Auszug |
2. Die ersten Schultage waren schwer. Ich war im Wesentlichen bis dahin ganz ohne Kontakt zu anderen Kindern - außer meinen jüngeren Geschwistern - aufgewachsen. Keine Straßenkindheit bis dahin, kein Kindergarten, keine Gruppen-Kinderspiele. Ich hatte keine Ahnung von "Räuber und Gendarm" und "Einkriege". Ich stand schüchtern am Rand, mit Kloß im Hals. Aber ein bis heute recht unerschütterliches Selbstbewusstsein nahm da vielleicht seinen Anfang. Jedenfalls nur Monate später war ich in Jungsprügeleien verwickelt, die damals noch Kräftemessen waren und mit Ritualen fernab jeder Brutalität und Verletzungsgefahr abliefen. Verschwitzt und mit abgerissenen Knöpfen kam ich freudig heim, ohne Schulranzen, vergessen im Eifer des Gefechts. Der Vater gar nicht amüsiert...
Erstlese- und Lebensbegleiter. Die Märchenbücher meiner Eltern. Grimm, Andersen, Bechstein. |
3. Ich war immer das, was man eine gute Schülerin nannte, oft Klassenbeste, und dennoch gegenüber allem, was ich nicht einsah, als langweilig oder als ungerecht empfand, aufmüpfig und widerspenstig. Das brachte mir den Respekt und bis heute währende Freundschaften von Mitschülern ein. Nach knapp drei Schuljahren wurde ich umgeschult, wir zogen aus dem Norden von Berlin in den Süden. Wieder ein Schulanfang, wieder ein Kloß im Hals. Aber diese Schulzeit begann mit einem Wandertag und ich konnte meine Laufqualitäten bei einem Verfolgungsrennen zwischen Gartenrestauranttischen unter Beweis stellen und erstes Lob von den starken Jungs ernten. Die ersten Unterrichtstage waren dann aber ernüchternd und verstörend. Ich kam nicht mit... Hier sagte man auf einmal Adjektiv statt Wie-Wort und Verb statt Tu-Wort und Multiplikation statt Malnehmen... Ich brauchte ein paar Wochen zum Adaptieren.
Mehrere tausend Seiten Lexikon vom Onkel aus Köln. Kam an, in der DDR, ich habe mich stundenlang damit beschäftigt. |
4. Der Schulanfang nach den Ferien, herrlich: Die Vorfreude auf die neuen Schulbücher, das Einschlagen ins blaue, grüne oder braune Packpapier, das Beschriften der Hefte, das Füllen der Federtaschen..., die Neugier auf neue Lehrer und die warm im Bauch pulsierende Vorfreude auf das Wiedersehen mit den Klassenkameraden... Und natürlich hatte ich jedes neue Lesebuch vor Beginn des neuen Schuljahres schon verschlungen.
Drei meiner Lieblingsbücher in der Grundschule. |
5. Nach der 8. Klasse ein Neuanfang an der gleichen Schule, aber in einer Vorbereitungsklasse aufs Abitur, Zusammenfinden von Pubertierenden aus fünf verschiedenen Orten. Wir fanden zusammen und teilen unvergessliche Erlebnisse, innerhalb und außerhalb der Schule, positiver und weniger schöner Art.
6. Nach der 10. schon wieder ein Schulanfang: nun an einer richtigen EOS (Erweiterte Oberschule), für mich in Königs Wusterausen, raus aus meiner Klasse, die woanders Abiturklasse wurde als ich. Denn unsere Familie war wieder umgezogen, d. h., noch nicht ganz. Das Haus wurde nicht fertig. Trotzdem sollte ich mal schon am anderen Ort zur Schule gehen. Jeden Morgen zwei Stunden Fahrt hin und nachmittags zurück. Ich kam nicht rein... Und landete mit anhaltender Magenschleimhautentzündung im Bett, bis mein Vater das Unheil begriff. Und mich wieder in meiner alten Klasse anmeldete.
7. Die war inzwischen in Ludwigsfelde an der EOS "eingeschult". Als Fahrschülerklasse zwischen mehreren anderen Klassen, die schon seit zwei Jahren zusammen waren. Also irgendwie Außenseiterrolle einer ganzen Klasse. Das schweißt zusammen. Am vergangenen Samstag hatten wir Jahrgangstreffen nach 45 Jahren Abitur. Und wir saßen wie immer einträchtig zusammen, aber abseits, nämlich raus aus dem Lärm in der Gaststätte, draußen im Freien, bis in die Nacht, die Decken aus Autos der Selbstfahrer wärmten, und das Zusammensein, die Gespräche, die Erinnerungen, das Lachen...
VHS im Oberstufenzentrum Cottbus. |
8. Die Schulanfänge unserer drei Kinder. Alle hier in Prieros, die beiden Großen noch in der "Baracke", ein Erweiterungsbau neben der alten Schule. Jedes Mal ein erhebender Moment, die Kinder auf diesen Weg zu schicken. Der jüngste kam dann schon in die "neue Schule", um die ich - noch in der DDR - als Abgeordnete jahrelang mit gekämpft hatte. Einschulungen waren für uns - so kannten wir es auch aus meiner Familie - immer Angelegenheiten im kleinen Familienkreis. Eine Schultüte mit ein paar ausgesuchten Kleinigkeiten, ein schöner Nachmittag in Familie, mit den damals hier in der Nähe lebenden Großeltern der Kinder, Kaffeetrinken, vielleicht ein Spaziergang oder ein kleiner Ausflug irgendwohin an einen unserer Seen oder in einen unserer Wälder. Schon ein besonderer Tag im Leben, aber ohne den Hype, der mir entgegenschlägt, wenn ich heute aus Versehen vor Schulbeginn in ein Kaufhaus gerate oder Gruselgeschichten von Versammlungen übermotivierter Eltern höre...
9. Und nun haben die zwei ältesten meiner fünf Enkel ihren Schulanfang schon fünf und ein Jahr hinter sich. Jedes Mal durften wir dabei sein und konnten an ihrem Mienenspiel und ihrer Haltung diese seltsame Mischung aus Neugier, Verzauberung und Unsicherheit ablesen... Alle beide haben sie hineingefunden, die eine in Druckschrift, die andere in Schreibschrift ("das rutscht so schön..."), alle beide ins Lesen. Damit ist schon viel gewonnen, finde ich.
Seit Dienstag 3. Semester Japanisch |
10. Ich bin gern zur Schule gegangen, sehr gern. Ich habe in jedem Abschnitt, in jeder Schule, Lehrerinnen und Lehrer gefunden, die ich toll fand, die mich geprägt und mir viel bedeutet haben auf meinem Weg in meine lange und facettenreiche Bildungsbiografie. Mit ihrer pädagogischen Kunst, ihrem Witz, ihrem Wissen und ihrer Haltung uns Kindern oder Jugendlichen gegenüber überstrahlen sie die durchaus vorhandenen weniger guten Erinnerungen an die schwierigen Seiten einer DDR-Schule. Ich lerne auch heute noch gerne. Bin noch immer voller Lernlust. Und das wird nicht aufhören, da bin ich mir sicher.
Sonnenuntergang neben der Uni-Bibliothek Cottbus |
Hier haben sich noch andere zu ihren Schulanfängen geäußert.
Ein sehr interessanter Einblick - wie überhaupt diese Aktion von Astrid ein sehr persönliches und anregendes Thema ist.
AntwortenLöschenMir scheint, du hattest keine so typische Kindheit und Jugend....
Der Bildband mit dieser berührenden Widmung ist toll, nach meinem Geschmack nur ein paare Jahre zu früh. Kindheit ist ja so kurz und prägend und sollte für mich eher leicht und kindgerecht sein - soweit es geht.
Schön, dass du gerne zur Schule gegangen bist und dir das Lernen leicht fiel und fällt. Und ja - so viel steht und fällt mit der Lehrerpersönlichkeit, egal zu welcher Zeit und an welcher Schule.
Liebe Grüße
Liebe Gretel, das Buch ist ein Bildband, du glaubst nicht, wie oft ich darin geblättert habe, als ich noch nicht richtig lesen konnte, so spannend diese Alltagsbilder aus der schon damals Tag und Nacht pulsierenden Stadt. Das Buch hat mir Fenster in die Welt eröffnet, auch wenn meine Eltern 1957 entschieden hatten in die DDR zu gehen. Deshalb haben sie ihren Weit- und Weltblick nicht verloren. Insofern hast du recht, war Einiges nicht typisch ;-). LG Ghislana
LöschenIch bin ganz gerührt. Und verstehe so vieles. Geschichte kann so persönlich sein, so einzigartig. Und doch gibt es Allgemeingültiges.
AntwortenLöschenDass du die Bücher noch hast!
Bon week-end!
Astrid
Danke fürs Mitmachen!
Bitte noch verlinken!
LöschenDanke & liebe Grüße!
LöschenWas für ein toller Eintrag von deinen Eltern - das ist mehr Wert als alles Gold und Geld und Glitzertand dieser Welt. Ein Schatz!
AntwortenLöschenLG. Susanne
deine schulerlebnisse mit anekdote zeigt wie wichtig diese zeit ist ! und dass du noch immer gerne dazulernst ist ja prima * war froh bei "richtiger japanische unterhaltung" dabei zu sein in meinem augusturlaub und mit der zeit kommt mir diese sprache langsam näher * höre jetzt besser die "musik" dieser sprache aber müsste so ein kurs wie deiner mitmachen um einiges zu behalten :)
AntwortenLöschenliebe grüsse
Hallo Ghislana,
AntwortenLöschenauch eine total interessante Lebensgeschichte.
Den Rasputin übrigens, den kannte ich schon meiner Mutter, die sich immer mit Anna Anderson beschäftigte und immer überzeugt war, dass sie die Zarentochter Ananstasia ist. Sie hats leider nicht mehr erlebt, dass sie es nicht war.
Alle Achtung japanisch, das ist schon ziemlich schwierig und alle Achtung.
Mit Sprachen hatte ich es nie obwohl englisch und latein gelernt, habe ich nicht viel behalten. Aber gewisse Brocken in Latein sind doch hängengeblieben.
Am Montag bin ich dabei und dann schaun mer mal, was uns Astrid das nächste Mal fragen wird.
Lieben Gruß Eva
die es sehr spannend findet, wie jeder so sein Leben geführt hat.
Diese Worte Deines Vaters... 1960 geschrieben und heute noch genau gleich aktuell und wertvoll - ob für ein Kind, welches eben in die (Schul-) Welt startet, oder für gestandene Erwachsene. So liebevoll und beeindruckend. Liebe Grüsse, Miuh
AntwortenLöschen...so eine bewegte Schullaufbahn, liebe Ghislana,
AntwortenLöschenimmer wieder Neubeginn...der Eintrag deines Vaters zeigt, dass du dabei familiär gute Begleiter hattest...ein unerschütterliches Selbstbewußtsein wie du schreibst, so hilfreich um durch den Schulalltag zu kommen, nicht nur in der DDR...deine immerwährende Lernfreude ist bewundernswert,
liebe Grüße Birgitt
Liebe Ghislana,
AntwortenLöschendas ist ein sehr schöner, wunderbarer und berührender Post , danke dafür!
Ich wünsche Dir ein wundervolles Wochenende!
♥ Allerliebste Grüße,Claudia ♥
Ach wie schön, danke! Und ganz wunderbar der Eintrag Deines Vaters. Wenn Du das Buch schon hast, solltest Du auch mal selbst schauen kommen wie Paris so ist, tags und nachts ;-) ich würde mich freuen! Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende!
AntwortenLöschenWas für viele Neubeginne schon als Kind. Ein wirklich sehr berührender und persönlicher Bericht. Das finde ich immer wieder so interessant.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Andrea
Liebe Ghislana,
AntwortenLöschenden Eintrag deines Vaters finde ich auch wunderbar und berührend und klug, wirklich etwas fürs ganze Leben. Faszinierend auch, dass du offenbar ins Schülerleben gut reingefunden hast, obwohl du ursprünglich nichts mit Gleichaltrigen zu tun hattest. Ich habe nie hineingefunden, hatte auch kaum je brauchbare Lehrer. Schule war für mich vor allem Zwang und Gleichmacherei und Missverstandenwerden.
Schultüten gab's bei uns übrigens auch nicht. Die waren in den 1960ern in Östereich offenbar noch nicht üblich...
Liebste Rostrosengrüße am Freitag
und ein schönes Wochenende!
Traude
http://rostrose.blogspot.co.at/2017/09/island-kreuzfahrt-teil-2-es-geht-los.html
was für eine interessante Schulbiographie
AntwortenLöschendie Zeilen deines Vaters finde ich sehr berührend..
das mit den Verben und Adjektiven ging auch nie richtig in meinen Kopf ;)
Deutsch machte ich aber intuitiv richtig ..
zu Gute kam mir da auch dass bei uns daheim Hochdeutsch gesprochen wurde
im Kindergarten war ich auch nur wenige Wochen ..
wie schön dass du immer noch gerne lernst
mein Kopf würde eine neue Sprache nicht mehr halten ;)
liebe Grüße
Rosi
die widmung ist ganz schön starker tobak für´n erstklässler :-)
AntwortenLöschenaber sicher gut gemeint und ja auch ein ziemlich guter rat!
*erzähl von deinen tieren* ist eines unserer lieblingsbücher!! manchmal liest mir der bahnwärter draus vor.......
gute erinnerungen hab ich nur an die erste klasse - danach war schule nur noch zwang, krampf und langeweile. die ganze geschichte ist auch viel zu traurig für einen post.
sonniges weekend nach norden! xxxxx
wie schön, dass du sagen kannst, dass du gern zur schule gegangen bist, obwohl deine vielen schulischen neuanfänge nicht immer leicht waren. ich hab deine ganz besondere schulbiographie sehr gern gelesen und ich hoffe, ich schaffe es, auch meine aufzuschreiben.
AntwortenLöschenliebe grüße
mano
Sehr interessant zu lesen...sitze gerade im ICE, der mich zu meinem Abi-Treffen in Leipzig bringen soll. Treffen nach 30 Jahren. Bin schon ziemlich aufgeregt...wie zum ersten Tag.
AntwortenLöschenLG Sigrun
Liebe Ghislana, oh das ist so schön, über Deinen Start in das Schülerleben zu lesen. Ganz besonders berührt haben auch mich (lese es in den Kommentaren anderer Leserinnen) die Widmung Deines Vaters. Mit so vielen guten Worten kann ein neuer Lebensabschnitt ja nur glücken. Und es zeigt sich heute, welcher Segen darin lag.
AntwortenLöschenHerzliche Sonntagsgrüße zu Dir!
Erika
Boah, Tränen wisch, die Widmung Deines Vaters, ach wie unglaublich stark und toll. Was Du erzählst beührt mich sehr, die Lernfreude, die Vorfreude aufs neue Schuljahr ( ich hatte das Deutschbuch auch vorher schon immer durch) und Euer Zusamenhalt auch 45 Jahre später noch. Herzlioche Grüße, Eva
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